Mittwoch, 22. April 2015

Inselhüpfen 2 (Westliche Kykladen, Frühjahr 2015)


PIRÄUS, Yachthafen, da, wo es wie in „Schöner Wohnen“ ist.

Der Bettler, der Rest Pizza und die Gelangweilte.
Seit längerem steht ein Rest Pizza zur Abholung durch den Kellner breit.
Einer, der nicht wie ein Kellner wirkt, nähert sich gebeugt dem Tisch an der Wasserfront des poshen Cafes.
Er muss die Gesättigte wohl um den Rest ihrer Pizza gebeten haben. Denn ich höre sie laut „Nä!“ („Ja“) sagen.
Und sehe sie die Pizza auf den Boden kippen.
Moralische Empörung über eine solche Drecksau verpasst die Chance, den Gehorsam dieses Charakters kritisch, d. h. ohnmächtig, zu referieren. Sie exekutiert nur, was alle über den Nichtsnutz längst als Urteil gesprochen haben.
Denn, nicht wahr, im Agon gibt es nur Sieger und Besiegte, die es sich beide selber zuzuschreiben haben.



Piräus ist etwas, wo man hinfährt, um von da wegzufahren.



    Ägina
    Wenn es diese fernen Tage noch gäbe,
    barfuß würde ich hinlaufen,
    um sie zu begrüßen.“
    (Griechisches Volkslied)
Inselpfade:
wo kein Fels ist, tritt man auf Geblümtes.

Viele der Pistazienbäume, für die Ägina berühmt ist, sind verstorben, entweder durch Vernachlässigung der Erben, die lieber ein Schild aufstellen: „Zu verkaufen“, oder durch den kalten Winter.

Ein griechischstämmiger Architekt aus Amerika misstraut den Griechen: er ist schließlich selber einer. Typischer Selfmademan („Ich war nichts, und jetzt schau mich an!“) Kann deswegen auch die Schwarzen, diese loser, nicht leiden: „Die machen alles, wovon sie glauben, dass sie damit durchkommen.“
Na ja. Reisebekanntschaften.
Der griechische Psychologe am Nachmittag war da erfreulicher. Er hält die Griechen ebenfalls für „cheats“, also korrupte Betrüger. Man darf dem Urteil eines freien Mittelständlers trauen, der sich über das Selbstbild von Seinesgleichen im Agon hervorragend auskennt.
Außerdem seien sie begeisterte Ikonoklasten: sie schöpften Heroen und zerschlügen sie anschließend mit der selben Begeisterung.
Das klingt nach Alexis Zorbas.
Ja.
Das zeigt sich auch daran, dass es selbst in London eine Gedenkmarke für den Romancier Nikos Kazantsakis gibt. Aber nicht hier, wo zwar ein Ort nach ihm benannt ist, aber nicht das Haus gekennzeichnet wird, in dem er zeitweilig wohnte.
Hat da die Kirche ein Wort mitzureden: der war Buddhist und Kommunist. Das geht ja nun mal gar nicht!

Schöne Küstenwanderung mit dem fernen Epidauros im Schneekleid. Hier pinkes Habichtskraut und ein weiss-lila den Boden deckender Kreuzblütler (Malcolmia), neben all dem anderen blütigen Zeugs.

Wandern: unbeaufsichtigt, und nichts und niemand verdrängend, außer der Luft vor deiner Brust.
Bin also da reichlich rumstrawanzt. Gibt hier einen Heiligen namens Nektarios, dem sie eine schöne orthodoxe Riesenkirche errichtet haben. Warum ich Heide in so was reingehe? Mir sagt Schönheit was, und auch zu.
Die alte, mehrfach von den Venezianern und den Türken abwechselnd zerstörte Palichora (Alte Stadt) mit den vielen Kirchlein gleich daneben aufgesucht.
Da konnte man es mal wieder sehen: die venezianischen Christen unterscheiden sich von den üblichen Zerstörern nur dadurch, dass sie vorher noch schnell irgendwelche Heiligen einkaufen gehen.
In diesem Falle, nämlich dem der Palichora, handelt es sich um den Heiligen Georg, den Katholiken, der seit damals bis jetzt in San Giorgio Maggiore, Venezia, liegt.
Über Pfade zu dem schon von Weitem sichtbaren Aphaia-Tempel, oder sollte man besser DEM Aphaia-Tempel sagen? Dessen Skulpturenschmuck steht in der Münchener Glyptothek. Ausnahmsweise mal nicht geklaut.
Ich erinnere mich an diese begeisternden Beispiele der aus der statischen Archaik hervorwachsenden Klassik und ihrer Serenität, die den Tod wie das Leben ernst nimmt. Die weitere Entwicklung der antiken Skulptur wird über die Feier der Individualität als den Garanten alles gesellschaftlich Guten zur Vergöttlichung des Herrschers an allen Straßenecken gehen.
Bei diesem Personenkult ist das Abendland seit fast zwei Jahrtausenden stehengeblieben.
Seriphos
Bin einer Frau Zwingenberger zufällig wieder begegnet. Die hatte mir letztes Jahr am Hafen ihre seit einem schweren Unfall marode Freundin vor der Überfahrt nach Piräus anvertraut.
Jetzt ist diese überfallartige Frau mit ihren stürmischen 75 Jahren eine Barbara.

Wir lieben beide Serifos, diese relativ ursprüngliche, also gnadenlose Insel. Einen Arzt oder etwas Ähnliches gibt es hier nicht. Entweder man übersteht eine Krankheit mit dem Beistand eines befreundeten Menschen, oder man stirbt auch ohne die Hilfe eines Mediziners.

Seit der Fahrt mit ihrem alten Auto kenne ich die Schicksale aller Häuser an der Südostküste bis Megali Livadi:
Und da, wo der rote Wimpel flattert, wohnt unser Kommunist... da oben hat ein deutsches Paar gelebt...nur gestritten...der Mann hat sich umgebracht...hier links wohnt ein Amerikaner, der einmal im Jahr kurzfristig herkommt … innen wie eine ägyptische Grabstätte mit Sternenhimmel...“

Diese wie ein Schweizer Käse durchlöcherte Bergbaugegend hatte, bevor das unrentabel wurde, ein Deutscher namens Grohmann ausgeplündert. Keine Gewerkschaft, keine Sicherheitsvorkehrungen, viele Tote.
Am 7. August 1916 kam es zum Streik, als sich die Arbeiter weigerten ein Schiff zu beladen. Die Forderungen sahen eine achtstündige Arbeitszeit, Lohnerhöhung sowie die Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen vor. Am 20. August forderte Grohmann Hilfe bei den griechischen Behörden an. Um Nahrungsmittel- und Solidaritätslieferungen aus Patras und Athen zu unterbinden wurden Polizeikräfte und ein Kriegsschiff zur Insel beordert. Der Streik eskalierte am 21. August 1916. Als die Gewerkschaftsführer von der Polizei festgehalten wurden, versammelten sich die Arbeiter zusammen mit ihren Familien an der Verladebrücke um die Beladung eines österreichischen Dampfschiffes zu verhindern. Nach Ablauf eines Ultimatums gab der Dienst habende Leutnant Feuerbefehl. Vier Menschen wurden getötet mehr als 30 verletzt. Als sich daraufhin die Menschen mit Steinen zur Wehr setzten, ließ auch der Minenbetreiber seine Wachleute in die Menge schießen. Auch der Leutnant, ein Unteroffizier sowie zwei Polizisten wurden getötet .“
(Quelle: Wikipädia)

1965 geschlossen, wurden die Minen zum Kulturdenkmal erklärt.
Wir verstehen: Denk mal, Kultur - wie sie geht und steht – ist: Hunger, Krankheit und Tote zu produzieren.
Für ein Kulturdenkmal braucht man übrigens für das Vor-sich-Hinrottende nichts mehr zu tun.
Ernle Bradford beschrieb noch in den 60ern in seinem Guide zu den griechischen Inseln die Einwohner der Insel als ängstlich und verschreckt.

Zum Wandern ist diese Insel aber hervorragend geeignet. 
Es gibt da sogar eine Stelle, von wo aus ich gerne meine dereinstige Asche in den Wind gestreut sähe. Ein kleiner, ins Meer vorschiessender Landrücken, von dem man im Frühjahr in diese quasi irische Küstenlandchaft zerfließt.

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